Dossier: Jenische Deserteure

Deser­ta­tion im Zwei­ten Welt­krieg war lange Zeit und für viele Men­schen ein Tabu­thema. Das Ver­wei­gern des Kriegs­diens­tes galt im bes­ten Fall als Feig­heit, wurde meis­tens jedoch als Ver­rat an Kame­ra­den und Vater­land angesehen. 

Für jeni­sche Deser­teure ging damit eine dop­pelte Stig­ma­ti­sie­rung ein­her. Stan­den sie schon qua Geburt und Namen am Rande der Gesell­schaft (→ Dos­sier: Ver­fol­gungs­ge­schichte), kam der ver­meint­li­che “Ver­rat durch Fah­nen­flucht” erschwe­rend hinzu. Nichts­des­to­trotz wird in vie­len jeni­schen Fami­lien – nicht ohne Stolz – von Ange­hö­ri­gen erzählt, die deser­tier­ten. Die Gründe, die die Ein­zel­nen dazu bewo­gen, sich dem Dienst in der Wehr­macht zu ent­zie­hen, sind viel­fäl­tig: Seien es poli­ti­sche Ableh­nung des Natio­nal­so­zia­lis­mus, pazi­fis­ti­sche Ideo­lo­gie, reli­giöse Gründe oder die Angst vor Tod oder Ver­wun­dung. Aus heu­ti­ger Sicht ist das Deser­tie­ren jeden­falls als Akt des Wider­stands gegen ein Unrechts­re­gime zu wer­ten. Obwohl schon lange Kon­sens in der wis­sen­schaft­li­chen Beur­tei­lung, wurde erst im Okto­ber 2009 das “Auf­he­bungs- und Reha­bi­li­ta­ti­ons­ge­setz” im Natio­nal­rat beschlos­sen und damit Deser­teure (wie etwa auch Frauen, die von Zwangs­ste­ri­li­sie­run­gen betrof­fen waren) expli­zit als Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus aner­kannt. Dass alte her­ab­wür­di­gende Vor­stel­lun­gen von Wider­stands­kämp­fern und Deser­teu­ren aber auch heute noch exis­tie­ren, zeigt sich in der Dis­kus­sion über die Neu­auf­lage der Gold­eg­ger Chro­nik und der Dar­stel­lung der Deser­teure und ihrer Helfer:innen, die mehr nach “Anti-Deser­teurs-Argu­men­ta­tion” (Hanna Sukare) klingt als nach reflek­tier­ter Aufarbeitung. 

Wie viele Jeni­sche tat­säch­lich deser­tiert sind bzw. ob sie über­pro­por­tio­nal häu­fig deser­tier­ten, lässt sich aus begreif­li­chen Grün­den nicht fest­stel­len. Doku­men­tiert sind hin­ge­gen Ein­zel­fälle. Dem Jeni­schen Archiv sind bis dato sechs (Tiro­ler) Jeni­sche nament­lich bekannt, die sich der Wehr­macht ver­wei­ger­ten. Die meis­ten die­ser doku­men­tier­ten Fälle gehen auf den His­to­ri­ker Peter Pir­ker zurück, der zur Zeit zum Thema Wehr­machts­de­ser­teure forscht und im Herbst 2023 eine Mono­gra­phie dazu her­aus­brin­gen wird. 

Gut doku­men­tiert ist dabei der Fall Ernst Feder­spiel, der am 4. Okto­ber 1924 in eine kom­mu­nis­ti­sche, anti­fa­schis­ti­sche und jeni­sche Fami­lie gebo­ren wurde. Seine Groß­el­tern müt­ter­li­cher­seits waren Bürstenbinder:innen und Hausierhändler:innen aus Hai­ming, wie seine Mut­ter Eli­sa­beth in einem Ver­hör zu Pro­to­koll gibt. Die Fami­lie sei­nes Vaters stammte aus Laatsch in Süd­ti­rol und ist sehr wahr­schein­lich über viele Ecken mit Alois Feder­spiel, vulgo Stor­chen Luis, ver­wandt, der als der letzte Vinschger “Karr­ner” benannt wird (siehe den Bei­trag von Helene Dietl-Lag­anda dazu in “Fah­rend? Um die Ötz­ta­ler Alpen. Per­spek­ti­ven jeni­scher Geschichte in Tirol”). 

Schon in jun­gen Jah­ren betä­tigt sich Ernst Feder­spiel ille­gal für die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei und nimmt etwa 1942 am Par­tei­kon­gress in Mün­chen teil. Mit 18 Jah­ren wohl­ge­merkt. Das Enga­ge­ment und der Wider­stand haben da schon eine über zehn­jäh­rige Tra­di­tion in der Fami­lie. Seine Mut­ter Eli­sa­beth Feder­spiel wurde im Juli 1933 wegen Abhal­tens einer Demons­tra­tion, sowie im Februar 1934 wegen der (angeb­li­chen) Teil­nahme an den Febru­ar­kämp­fen ver­haf­tet. In der NS-Zeit kommt sie von Okto­ber 1938 bis Februar 1940 ins KZ Ravens­brück, zwei Jahre spä­ter im Mai 1942 wird sie gemein­sam mit Mann, Toch­ter, Enkel und dem Sohn Ernst wegen des Ver­dachts kom­mu­nis­ti­scher Betä­ti­gung erneut ver­haf­tet. Für Ernst Feder­spiel steht eine Ein­be­ru­fung zur Wehr­macht damit kurz bevor. Wie ein Zel­len­ge­nosse in die­ser Zeit spä­ter berich­tet, steht für ihn fest, dass er sich dem Wehr­dienst auf­grund sei­ner anti­fa­schis­ti­schen Hal­tung ent­zie­hen wird (Vgl. Chris­tina Mül­ler: „Die Ver­ges­se­nen vom Pasch­berg“ in: Gais­mair-Jahr­buch 2014, S. 180). 

Im Okto­ber 1942 rückt er zur Wehr­macht ein und kommt zu einem Lan­des­schüt­zen­ba­tail­lon nach Lienz. Im April 1943 ent­fernt er sich uner­laubt von der Truppe, um seine Braut Herta Flat­scher zu besu­chen, die ein Kind von ihm erwar­tete. Schon am zwei­ten Tag wird er aber auf­ge­grif­fen und in wei­te­rer Folge durch das Kriegs­ge­richt zu 8 Mona­ten Gefäng­nis ver­ur­teilt. Noch vor Haft­an­tritt flieht er im Mai 1943 wie­der von der Truppe und kommt schließ­lich im Juli 1943 nach Hall i. T. zu sei­ner Schwes­ter. Die Pläne sich in die Schweiz abzu­set­zen, wo ein Bru­der von Niko­laus Feder­spiel lebt, schei­tern und er wird in der Nähe von Silz fest­ge­nom­men. Auf dem Trans­port nach Kla­gen­furt ver­letzt sich Ernst Feder­spiel selbst mit einer Pis­tole und wird ins dor­tige Laza­rett ein­ge­lie­fert, von wo ihm im Okto­ber 1943 wie­der mit Hilfe von Fami­lie und Freund:innen die Flucht gelingt. Er taucht in Hall i. T. unter, wird nach eini­gen Mona­ten durch den Schwie­ger­va­ter ver­ra­ten und auf­grund der noch nicht aus­ge­heil­ten Ver­let­zung und sei­nes ange­grif­fe­nen psy­chi­schen Zustands in die Inns­bru­cker Ner­ven­kli­nik ein­ge­lie­fert. Nicht zu glau­ben, aber es glückt ihm aber­mals die Flucht. Im Sep­tem­ber 1944 schließ­lich, Ernst ist mitt­ler­weile in Kärn­ten unter­ge­taucht, wird er gemein­sam mit einem Freund am Bahn­hof in Kla­gen­furt von einem Gestapo-Beam­ten auf­ge­for­dert sich aus­zu­wei­sen. Der Beamte gibt sich mit den gefälsch­ten Papie­ren zufrie­den. Und dann pas­siert das, was man sich nicht vor­stel­len kann. Ernst, laut Gerichts­pro­to­koll etwas ange­hei­tert, ruft dem Beam­ten hin­ter­her, dass sie des­sen Papiere gar nicht gese­hen hät­ten. Es folgt, man kann es ahnen, die Verhaftung. 

Ernst Feder­spiel wird am 13. April 1945 zum Tode ver­ur­teilt und am 21. April, zwei­ein­halb Wochen vor der Befrei­ung, am Pasch­berg in Inns­bruck erschos­sen. Sein Vater Niko­laus, schon im Jän­ner 1944 wegen Bei­hilfe zur Fah­nen­flucht ver­ur­teilt, stirbt im Zucht­haus Bruch­sal am 10. März 1945 nach schwe­ren Miss­hand­lun­gen. Seine Mut­ter Eli­sa­beth, sowie die Schwes­ter Emma wer­den eben­falls zu län­ge­ren Stra­fen ver­ur­teilt und kom­men mit Ende des NS-Regimes frei. Für letz­tere ist damit aller­dings nicht alles vor­bei. Im Dezem­ber 1949 ord­net das Inns­bru­cker Gericht eine Unter­su­chung des Fal­les an und setzt „mit einem Jahr schwe­ren Ker­kers, ver­schärft durch ein har­tes Lager“ die Strafe neu fest. Immer­hin hebt der Oberste Gerichts­hof wenig spä­ter das Urteil wie­der auf.

Jenische Deserteure

Emma Gstett­ner freigesprochen

Emma Gstett­ner, die Schwes­ter von Ernst Feder­spiel, wurde kurz vor Kriegs­ende noch wegen Bei­hilfe zur Fah­nen­flucht ver­ur­teilt. Mit dem Ende des Nazi­re­gimes wird ihr Fall von der Jus­tiz neu beur­teilt – die Haft soll bestehen blei­ben. Erst fünf Jahre später

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