Sieglinde Schauer-Glatz: Fahnenflucht als Widerstand
Sieglinde Schauer-Glatz erzählt von der Kriegsgefangenschaft ihres Vaters Johann Glatz, der ein Deserteur gewesen ist.
Desertation im Zweiten Weltkrieg war lange Zeit und für viele Menschen ein Tabuthema. Das Verweigern des Kriegsdienstes galt im besten Fall als Feigheit, wurde meistens jedoch als Verrat an Kameraden und Vaterland angesehen.
Für jenische Deserteure ging damit eine doppelte Stigmatisierung einher. Standen sie schon qua Geburt und Namen am Rande der Gesellschaft (→ Dossier: Verfolgungsgeschichte), kam der vermeintliche “Verrat durch Fahnenflucht” erschwerend hinzu. Nichtsdestotrotz wird in vielen jenischen Familien – nicht ohne Stolz – von Angehörigen erzählt, die desertierten. Die Gründe, die die Einzelnen dazu bewogen, sich dem Dienst in der Wehrmacht zu entziehen, sind vielfältig: Seien es politische Ablehnung des Nationalsozialismus, pazifistische Ideologie, religiöse Gründe oder die Angst vor Tod oder Verwundung. Aus heutiger Sicht ist das Desertieren jedenfalls als Akt des Widerstands gegen ein Unrechtsregime zu werten. Obwohl schon lange Konsens in der wissenschaftlichen Beurteilung, wurde erst im Oktober 2009 das “Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz” im Nationalrat beschlossen und damit Deserteure (wie etwa auch Frauen, die von Zwangssterilisierungen betroffen waren) explizit als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Dass alte herabwürdigende Vorstellungen von Widerstandskämpfern und Deserteuren aber auch heute noch existieren, zeigt sich in der Diskussion über die Neuauflage der Goldegger Chronik und der Darstellung der Deserteure und ihrer Helfer:innen, die mehr nach “Anti-Deserteurs-Argumentation” (Hanna Sukare) klingt als nach reflektierter Aufarbeitung.
Wie viele Jenische tatsächlich desertiert sind bzw. ob sie überproportional häufig desertierten, lässt sich aus begreiflichen Gründen nicht feststellen. Dokumentiert sind hingegen Einzelfälle. Dem Jenischen Archiv sind bis dato sechs (Tiroler) Jenische namentlich bekannt, die sich der Wehrmacht verweigerten. Die meisten dieser dokumentierten Fälle gehen auf den Historiker Peter Pirker zurück, der zur Zeit zum Thema Wehrmachtsdeserteure forscht und im Herbst 2023 eine Monographie dazu herausbringen wird.
Gut dokumentiert ist dabei der Fall Ernst Federspiel, der am 4. Oktober 1924 in eine kommunistische, antifaschistische und jenische Familie geboren wurde. Seine Großeltern mütterlicherseits waren Bürstenbinder:innen und Hausierhändler:innen aus Haiming, wie seine Mutter Elisabeth in einem Verhör zu Protokoll gibt. Die Familie seines Vaters stammte aus Laatsch in Südtirol und ist sehr wahrscheinlich über viele Ecken mit Alois Federspiel, vulgo Storchen Luis, verwandt, der als der letzte Vinschger “Karrner” benannt wird (siehe den Beitrag von Helene Dietl-Laganda dazu in “Fahrend? Um die Ötztaler Alpen. Perspektiven jenischer Geschichte in Tirol”).
Schon in jungen Jahren betätigt sich Ernst Federspiel illegal für die Kommunistische Partei und nimmt etwa 1942 am Parteikongress in München teil. Mit 18 Jahren wohlgemerkt. Das Engagement und der Widerstand haben da schon eine über zehnjährige Tradition in der Familie. Seine Mutter Elisabeth Federspiel wurde im Juli 1933 wegen Abhaltens einer Demonstration, sowie im Februar 1934 wegen der (angeblichen) Teilnahme an den Februarkämpfen verhaftet. In der NS-Zeit kommt sie von Oktober 1938 bis Februar 1940 ins KZ Ravensbrück, zwei Jahre später im Mai 1942 wird sie gemeinsam mit Mann, Tochter, Enkel und dem Sohn Ernst wegen des Verdachts kommunistischer Betätigung erneut verhaftet. Für Ernst Federspiel steht eine Einberufung zur Wehrmacht damit kurz bevor. Wie ein Zellengenosse in dieser Zeit später berichtet, steht für ihn fest, dass er sich dem Wehrdienst aufgrund seiner antifaschistischen Haltung entziehen wird (Vgl. Christina Müller: „Die Vergessenen vom Paschberg“ in: Gaismair-Jahrbuch 2014, S. 180).
Im Oktober 1942 rückt er zur Wehrmacht ein und kommt zu einem Landesschützenbataillon nach Lienz. Im April 1943 entfernt er sich unerlaubt von der Truppe, um seine Braut Herta Flatscher zu besuchen, die ein Kind von ihm erwartete. Schon am zweiten Tag wird er aber aufgegriffen und in weiterer Folge durch das Kriegsgericht zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt. Noch vor Haftantritt flieht er im Mai 1943 wieder von der Truppe und kommt schließlich im Juli 1943 nach Hall i. T. zu seiner Schwester. Die Pläne sich in die Schweiz abzusetzen, wo ein Bruder von Nikolaus Federspiel lebt, scheitern und er wird in der Nähe von Silz festgenommen. Auf dem Transport nach Klagenfurt verletzt sich Ernst Federspiel selbst mit einer Pistole und wird ins dortige Lazarett eingeliefert, von wo ihm im Oktober 1943 wieder mit Hilfe von Familie und Freund:innen die Flucht gelingt. Er taucht in Hall i. T. unter, wird nach einigen Monaten durch den Schwiegervater verraten und aufgrund der noch nicht ausgeheilten Verletzung und seines angegriffenen psychischen Zustands in die Innsbrucker Nervenklinik eingeliefert. Nicht zu glauben, aber es glückt ihm abermals die Flucht. Im September 1944 schließlich, Ernst ist mittlerweile in Kärnten untergetaucht, wird er gemeinsam mit einem Freund am Bahnhof in Klagenfurt von einem Gestapo-Beamten aufgefordert sich auszuweisen. Der Beamte gibt sich mit den gefälschten Papieren zufrieden. Und dann passiert das, was man sich nicht vorstellen kann. Ernst, laut Gerichtsprotokoll etwas angeheitert, ruft dem Beamten hinterher, dass sie dessen Papiere gar nicht gesehen hätten. Es folgt, man kann es ahnen, die Verhaftung.
Ernst Federspiel wird am 13. April 1945 zum Tode verurteilt und am 21. April, zweieinhalb Wochen vor der Befreiung, am Paschberg in Innsbruck erschossen. Sein Vater Nikolaus, schon im Jänner 1944 wegen Beihilfe zur Fahnenflucht verurteilt, stirbt im Zuchthaus Bruchsal am 10. März 1945 nach schweren Misshandlungen. Seine Mutter Elisabeth, sowie die Schwester Emma werden ebenfalls zu längeren Strafen verurteilt und kommen mit Ende des NS-Regimes frei. Für letztere ist damit allerdings nicht alles vorbei. Im Dezember 1949 ordnet das Innsbrucker Gericht eine Untersuchung des Falles an und setzt „mit einem Jahr schweren Kerkers, verschärft durch ein hartes Lager“ die Strafe neu fest. Immerhin hebt der Oberste Gerichtshof wenig später das Urteil wieder auf.
Sieglinde Schauer-Glatz erzählt von der Kriegsgefangenschaft ihres Vaters Johann Glatz, der ein Deserteur gewesen ist.
Emma Gstettner, die Schwester von Ernst Federspiel, wurde kurz vor Kriegsende noch wegen Beihilfe zur Fahnenflucht verurteilt. Mit dem Ende des Naziregimes wird ihr Fall von der Justiz neu beurteilt – die Haft soll bestehen bleiben. Erst fünf Jahre später
Der kleine Artikel aus dem Abschnitt “Aus der Gauhauptstadt” (Bildmitte oben) erwähnt die Haftstrafe des “Volksschädlings” Anna Glatz, die wegen Beihilfe zur Fahnenflucht verurteilt wurde.
Der streng juristische Blick auf die Verurteilungen von Elisabeth Federspiel und ihren Verwandten wegen Beihilfe zur Fahnenflucht des Ernst Federspiel und welche Konsequenz diese Strafen für die Beteiligten nach 1945 noch nachsich zogen.
Peter erzählt etwas mehr von seinem Onkel Johann “Bibi” Glatz, der als Fahnenflüchtiger in ein KZ gebracht wurde.
Peter erzählt von Johann Glatz, seinem Onkel, der als Fahnenflüchtiger in ein KZ bei München (evtl. Dachau) verschleppt worden ist.
In einem ehemaligen Steinbruch am Paschberg in Innsbruck wurden während der nicht ganz 1000-jährigen Herrschaft des Dritten Reichs an die 450 Menschen von den Nationalsozialisten hingerichtet.
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